Die Kunst der Resilienz zu beherrschen macht dich nicht nur wieder zu dem, der du früher einmal zu sein glaubtest – sie bewirkt viel mehr.
Aus dieser Erfahrung gehst du verwandelt hervor, als ein wahrhaftigerer Ausdruck des Menschen, der du gemäß deiner Bestimmung eigentlich sein sollst.«
Carol Osborn
ICH BEFASSE MICH BEI DEM, WAS ICH LEHRE, mit zwei Dingen: mit dem Leiden, das aus emotionaler Verwirrung entsteht, und der Freiheit, die aus emotionaler Intelligenz erwächst. Meine Aufgabe auf diesem Planeten besteht darin, anderen dabei zu helfen, die Natur unseres Gefühlslebens zu erkennen – was unsere Gefühle sind, warum sie da sind, wie verschiedene Gefühle dynamisch miteinander interagieren, und – am wichtigsten –, dass alles davon abhängt, wie wir mit ihnen interagieren. Wir haben eine Beziehung zu jedem unserer zahlreichen emotionalen Anteile, und diese Beziehungen können entweder eine lebensverändernde Harmonie mit sich bringen oder den Nebel der Verwirrung noch vertiefen.
Ich bin wirklich ein idealer Kandidat für diesen Job. Ich habe einen Großteil meines Lebens damit zugebracht, auf die eine oder andere Weise verärgert zu sein. Frag, wen du willst – wer auch immer mich schon eine Weile kennt, wird sich ein bisschen winden in dem Versuch, eine höfliche Antwort zu finden. Es gab einmal eine Zeit, in der ich nichts anderes tat, als meine Verwirrung auszuagieren und meinen Schmerz und meine Wut dadurch zu vervielfachen, dass ich sie an mir selbst und anderen ausließ. Ich wusste weder, wie ich meine Gefühle wahrnehmen und unterscheiden noch wie ich sie stoppen und mit ihnen umgehen sollte; und ebenso wenig wusste ich, dass ich noch eine andere Wahl hatte, als sie entweder zu unterdrücken oder mich von ihnen beherrschen zu lassen. Dass ich mich wie besessen mit der Frage beschäftigte, wie unsere Gefühle funktionieren und welche Rolle sie im Leben spielen, ergab sich zwangsläufig daraus, dass ich mich gegen den psychischen Tod zur Wehr setzen wollte. Meine Arbeit wurde aus der Not geboren – wahrhaftig als Mittel, um zu überleben.
IN DER HIGHSCHOOL habe ich ein DIY-Punk-Zine namens No Fun geschrieben, das leider nicht nach dem IGGY-POP-Song benannt wurde (das wäre viel cooler gewesen). Vielmehr war »No Fun« – ich sei eine »Spaßbremse« – das, was meine Freunde ständig über mich sagten. Sie mahnten mich endlos, dass ich mich zu sehr über Rassismus, Sexismus, Homophobie und die unzähligen anderen Formen von Borniertheit in der Welt aufregte. Ich war zu verbissen darauf aus, meinen Platz in einer ungerechten Gesellschaft zu finden und machte zu viel Lärm darum.
Identitätsfragen waren für mich immer komplex. Zunächst habe ich bi-ethnische Wurzeln. Ich bin in einem mexikanischen Elternhaus aufgewachsen, mit meiner originär mexikanischen Mutter und meinen mexikanischen Schwestern (die eigentlich Halbschwestern sind, aber das hat sich nie so angefühlt). Dennoch schien bei mir wegen meiner hellen Haut eher das niederländische Blut meiner Verwandtschaft aus Oklahoma durch. Noch unbestimmter wird es, wenn ich versuche, Geschlecht und Sexualität festzumachen. Ich wurde bei meiner Geburt als männlich eingestuft und habe mich in diesem männlichen Körper immer wohlgefühlt. Genderidentität ist allerdings eine andere Geschichte. Angesichts der binären Kategorisierung »Mädchen tun dies, Jungen tun das« war meine Antwort schon immer: »Hä?« Ich identifiziere mich als »Gender-Aussteiger«, weil ich mich bei keiner anderen Bezeichnung angesprochen fühle. »Genderqueer«, »nichtbinär«, »geschlechtsneutral« … – ich habe es mit diesen Zuschreibungen versucht, und sie haben zwar irgendwie halbwegs funktioniert, aber meine wahre Position in dieser Sache ist einfach: »Ich kapier es nicht und sehe auch nicht ein, warum ich es kapieren müsste.« Was den Genderausdruck anbelangt, bin ich jedoch seit meiner Geburt »weiblich« bis zum Gehtnichtmehr und habe teuer dafür bezahlt. Nicht zuletzt deswegen, weil ich mehrere verwirrte Jahre lang mit Männern ausgegangen bin. Wegen meiner Aufmachung wurde ich, als ich aufwuchs, fälschlicherweise für schwul gehalten und so oft als Schwuchtel (usw.) bezeichnet, dass die Grenzen dessen, was für mich stimmte, verschwammen. Und doch endete die Überraschung für mich mit der Entdeckung, dass meine sexuellen und romantischen Neigungen denen gehören, die sich ausschließlich als Frauen identifizieren. Das heißt, ich gehe mit heterosexuellen, weißen, männlichen Privilegien durch die Welt … und doch entspricht meine Erfahrung nicht dem, was diese Etiketten suggerieren.
Damals in der Highschool war ich gerade erst dabei herauszufinden, dass all das wirklich wichtig ist, aber ich wusste nicht, wie ich meine Erfahrungen verarbeiten, was ich mit ihnen anfangen sollte. Ich wurde in der Schule und auch außerhalb davon schikaniert und geschlagen – als Strafe für meine Unfähigkeit (und manchmal auch für meine unumwundene Weigerung), eine den Normen entsprechende Männlichkeit auszuüben. »Warum bist du so komisch?«, bekam ich ständig zu hören. Mit sechzehn ging ich fast ein ganzes Jahr lang gar nicht mehr vor die Tür, aus Angst, wieder angegriffen zu werden. Da waren der Schmerz und der Schrecken der Gewalt – das war der offensichtliche Teil –, aber auch der verborgene Schmerz darüber, dass ich nicht verstand, warum ich zur Zielscheibe geworden war, nur weil ich nicht wie andere Jungen war. Heute bin ich jedoch dankbar, dass ich all das durchgemacht habe. Vor allem, weil ich weiß, was als Nächstes geschah.
Der radikale Feminismus war mein erstes spirituelles Erwachen. Die Narrative und Theorien, die ich in der Riot-Grrrl-Literatur und im politisch aufgeladenen Anti-Establishment-Punkrock fand, waren für mich weit mehr als nur ästhetisch. Sie nannten meine Erfahrung der Welt beim Namen und legten sie offen – mit einer Präzision, die ich zuvor noch nie erlebt hatte. In meiner erwachenden Bewusstheit konnte ich endlich sehen und beschreiben, dass Mobbing letztendlich auf Macht hinausläuft und dass es bei dieser Macht in Wirklichkeit um Sicherheit versus Verletzlichkeit ging. Ich wurde überfallen, weil ich als nicht besonders männlicher Junge verletzlich aussah und dadurch in Jungen den Drang hervorrief, über mich herzufallen, um selbst unangreifbar zu wirken (damit sie nicht, wie ich, zur Zielscheibe wurden). Diese Einsicht dämmerte mir, als ich zum ersten Mal über den Status von Frauen in unserer Gesellschaft nachdachte und darüber, wie sie behandelt werden. Dadurch, dass ich Parallelen zu meinen eigenen Erfahrungen erkennen konnte, fühlte ich mich endlich gesehen. Währenddessen machte es mich – berechtigterweise – wütend, zu sehen, dass Mädchen, Frauen und LGBTQAI+*-Menschen benachteiligt waren.
Mir wurden die Augen geöffnet und ich erkannte, dass meine Erfahrung ein Mikrokosmos von Dynamiken war, die sich auf der ganzen Welt in zahllosen und viel schlimmeren Formen abspielten. Da war ich nun, so traumatisiert, dass es in äußerste Isolation ausartete, und doch gehörte ich immer noch zu denen, die im Vergleich noch Glück gehabt hatten. Anfangs, als mir der alltägliche Missbrauch in unserer Welt erstmals klar wurde, »explodierte« mein Gehirn. Dieses gesellschaftspolitische Erwachen bot mir ein Druckventil für einen Kessel, in dem es schon viel zu lange kochte. Und so pfiff mein Kessel seine Botschaft hinaus – eine Botschaft, die so stark mit angestauter emotionaler Energie geladen war, dass niemand sie hören konnte. Und so wurde mir gesagt, ich würde überreagieren und die Dinge dramatisieren – ich solle mich entspannen.
Ich verstand eben keinen Spaß.
Meine Freunde waren Dummköpfe. Andererseits stimmte es auch, dass ich herumlief und die Leute anranzte. Zum Beispiel brach ich bei Punk-Konzerten in Tränen aus und schrie andere im Publikum an, wenn ich das Gefühl hatte, dass die Botschaft einer Band sexistisch war. Die Artikel in meinem E-Zine und die Texte, die ich für meine eigenen Punkbands schrieb, waren ziemlich unzusammenhängend. Manche mochten sie zwar, aber nur diejenigen, die ohnehin schon ähnlich empfanden wie ich. Es half, mit solchen Gleichgesinnten in Kontakt zu sein, aber die Wut wurde selten zu echtem Handeln, zu organisierter Umsetzung, geschweige denn, dass wir auch Menschen außerhalb unseres kleinen Kreises erreicht hätten. Wie schon gesagt: Bei Kommunikation geht es darum, gehört zu werden. Ich habe nicht kommuniziert. Ich habe meinem Zorn Luft gemacht. Beides hat seinen Wert, aber wenn du eine wichtige Botschaft hast, die nach deinem Empfinden die Welt verändern könnte, dann ist das eine Botschaft, die kommuniziert werden muss. Das soll nicht heißen, dass Aktivisten und Menschen, die etwas bewegen wollen, ihre Botschaften verwässern sollen, um sie den Massen schmackhaft zu machen. Das wäre ein Thema für ein anderes Buch. Ich möchte uns vielmehr zu einem ganz anderen Thema hinführen. Eines, das von seiner Natur her nahezu universell ist. Ein Thema, das wichtig ist im Zusammenhang damit, wie wir im Kampf Resilienz bewahren – für psychische Klarheit auf dem Feld des psychischen Todes.
ETWAS WICHTIGES, DAS ICH DAMALS noch nicht erkennen konnte, ist mir jetzt klar: Meiner auf gesellschaftspolitische Gegebenheiten ausgerichteten Angst ging das Mobbing voraus, dem ich in der Schule ausgesetzt war. Die Art und Weise, wie sich meine Empörung über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zeigte, war sehr stark von früheren Erfahrungen geprägt. Meine Trauma-Geschichte hatte mit Menschen begonnen, die mir viel näherstanden. Bevor ich Wut auf »das System« entwickelte, hatte ich ein anderes, viel persönlicheres System erlebt: meine Familie. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis ich verstand, dass zum Beispiel meine Wut auf den Präsidenten auf verworrene Weise mit der Wut auf einen anderen »Präsidenten« verwoben war: auf meinen Vater. Beide Arten der Wut waren berechtigt; die Tatsache, dass sie miteinander verflochten waren, negiert oder verwässert weder die eine noch die andere. Aber meine emotionale Situation war unklar und konfus, was weder ein Rezept für ein empathisches Selbstverständnis noch für effektives Handeln in einer Gemeinschaft ist.
»WAS VERGANGEN IST, IST VERGANGEN«, wurde uns beigebracht, aber aus wissenschaftlicher Perspektive stimmt das gar nicht. Die Vergangenheit ist genau hier in unserem Körper. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass unsere angesammelten Erfahrungen in unser Nervensystem, unsere Zellen, unsere Faszien gelangen. Das gilt insbesondere für unsere unbehandelten Verletzungen, unsere nicht verarbeiteten Traumata, die prägenden Szenen unseres Lebens (vor allem aus der Kindheit), die unserer Psyche mehr übermittelt haben, als Worte es je vermochten.
Unsere Gefühle sind von der Vergangenheit durchdrungen, unsere Einstellungen vom Gestern geprägt. Unser Verhalten ist meistens ein Amalgam aus Dingen, die uns von Erwachsenen vorgelebt wurden, als wir klein waren. Und so vieles davon ist im unterbewussten Bereich unseres Geistes und unseren »Gedächtnissystemen« gespeichert, die unsere Überzeugungen beeinflussen: welchen Wert wir unserem Leben beimessen, wie wir mit Problemen umgehen, wie Beziehungen ablaufen und Gesellschaften funktionieren. Aber unser Gehirn selbst weiß das nicht, ebenso wenig, wie unsere Augen sich so drehen können, dass sie sich selbst sehen. Die Vergangenheit ist nicht vorbei. Die Vergangenheit ist, wer und was wir jetzt sind.
Das ist eine vielversprechende Wahrheit. Denn wenn die Vergangenheit nicht vorbei ist, ist sie auch nicht in Stein gemeißelt. Wir können verändern, wie die Vergangenheit in unserem Körper fortbesteht. Wir können unsere emotionalen Muster verändern – neu verdrahten – und in tiefgreifenderen therapeutischen Prozessen sogar Erinnerungen neu schreiben. Wir können Teile von uns zurückholen, die verbannt und verleugnet worden sind. Wir können das, was in uns zersplittert und unharmonisch ist, wieder kitten und heilen. In diesem Buch werde ich argumentieren, dass eine solche Arbeit zu den größten, wichtigsten Geschenken gehört, die wir uns selbst, unserer Familie, unserer Gemeinschaft und der Welt machen können.
Eine Geschichte
|
Triggerwarnung: Kindesvernachlässigung, Fahren unter Alkoholeinfluss und Gewalt |
SOMMER IN OKLAHOMA. Ein Moment in Raum und Zeit, als mein kindlicher Geist ganz in einfachen Freuden aufgehen konnte. An jenem Abend stieg um mich herum die Luft mit ihrem Duft frisch vom Fluss auf. Die Sonne war gerade ganz untergegangen. Glühwürmchenschwärme stellten ihre überirdische Magie ohne jegliche Scheu voll zur Schau. Das Geräusch des vorbeirauschenden Wassers begleitete die trägen Wellen, die meine kleinen, acht Jahre alten Füße – nackt im rotbraunen Ufersand des Red River – umspülten.
Ich wünschte, die Geschichte würde hier enden. Momente wie diese waren stets angstgeschwängert. Denn wenn ich in Oklahoma war, dann nur, weil ich meinen Vater besuchte. Was wiederum bedeutete, dass die Situation jederzeit ins Üble umschlagen konnte – und es wahrscheinlich auch tat. Mein Vater war der erste von zahlreichen Menschen in meinem Leben, die mich schikaniert haben, und der erste von vielen, der in mir Todesangst hervorrief.
Mein Vater war ein offen gewalttätiger, schamlos rassistischer Täter, der fünf Kinder und sieben (sieben!) Ehen verlassen hatte – und obendrein bei all dem ein evangelikaler Christ mit fanatischem missionarischen Eifer. Das Haus meiner Kindheit zitterte nach seinen überfallartig über uns hereinbrechenden Trinkphasen und seinen Versuchen, uns obdachlos und mittellos zurückzulassen, indem er plötzlich verschwand. Am Ende tauchte er dann wieder auf, jetzt drei Staaten entfernt lebend. Er lud mich zu einem Besuch ein, damit die Beziehung wieder »aufflammen« konnte. Und genau das bekam ich – Flammen. In dieser Nacht am Red River verbrannte ich mir die Hand an einem Lagerfeuer. War es eine Verbrennung ersten Grades? Zweiten Grades? Ich weiß es nicht, denn ich wurde nicht zum Arzt gebracht. In Panik lief ich zu meinem Vater, um ihm meine Hand zu zeigen, auf der sich deutlich Blasen bildeten, und wurde mit der Antwort abgespeist: »Was soll ich tun? Etwa pusten, damit es besser wird?« Seine Saufkumpanen lachten alle und wandten sich wieder dem Kartenspiel zu. Sein »Pusten-damit-es-besser-wird«-Kommentar lief auf die Aufforderung hinaus, ich solle mich in einer Angelegenheit entspannen, die ziemlich dringend war. Und als ich das nicht konnte, gab er mir zu verstehen – diesmal auf eine viel furchteinflößendere Art und Weise – ich würde wieder überreagieren.
Trotz der Erniedrigung versuchte ich beharrlich, ihn dazu zu bringen, mir zu helfen. Das Mindeste, was ich brauchte, war Eis und es war keins da. Mein Vater knickte ein. Wütend. Allerdings war mir nicht klar, was das bedeutete: dass er sternhagelvoll mit mir nach Hause fahren würde. Während er einen schmalen Waldweg entlangraste, voller Zorn auf mich, weil ich seinen Abend gestört hatte, schrammte sein Pickup einen Baum. Und dann einen weiteren Baum. Und dann noch einen. Geschlagene fünfzehn Minuten saß ich erstarrt im Auto, klammerte mich am Sitz fest, und alle Szenen, die ich je in Filmen, im Fernsehen und auf Lehrvideos in der Schule gesehen hatte, schossen mir durch den Kopf. Wir streiften einen weiteren Baum und der Rückspiegel direkt neben mir wurde sauber abgetrennt. Ich war sicher, dass wir sterben würden, und konnte in meiner Hilflosigkeit nicht das Geringste dagegen tun.
Nie werde ich vergessen, wie mein Vater am nächsten Morgen eine Dose Old-Milwaukee-Bier aufmachte, aus dem Fenster schaute und fragte: »Was zur Hölle ist mit meinem Truck passiert?« Was zur Hölle mit seinem Sohn passiert war – wen juckte das schon?
WENN ICH NACH ALL DEN JAHREN die Reaktion meines Vaters auf meine verbrannte Hand noch einmal Revue passieren lasse, erinnert mich das an die T-Shirts, die ein lächelndes Paar 2016 im Partnerlook trug. Auf den T-Shirts stand »Fuck Your Feelings« – »Scheiß auf deine Gefühle«. Die politische Botschaft dahinter war eine entschiedene Aussage über die in den 1990er-Jahren geborene mimosenhafte »Generation Snowflake«, eine Gegenreaktion also auf die Generation, deren Hände im Lagerfeuer sind und die herauszufinden versucht, was zu tun ist. Das Paradoxe daran ist, dass es keinen Moment gibt, in dem Menschen nichts fühlen – das gilt auch für die beiden mit den T-Shirts. »Fuck Your Feelings« ist eine Aussage voller Gefühle. Denn schließlich ist Verbitterung ein Gefühl. Kälte ist ein Gefühl. Dumpfheit ist ein Gefühl. Emotionale Abschottung ist ein Gefühl. Mit Gefühlen nichts zu tun haben wollen ist ein Gefühl. Das T-Shirt war kein Ableugnen der Bedeutung von Gefühlen, sondern es besagte: »Du solltest nur die Gefühle haben, die wir haben.« Auf dem T-Shirt ging es ausschließlich um Gefühle.
Das war die Einstellung meines Vaters mir gegenüber, als ich acht Jahre alt war, und so blieb es bis zu seinem Tod. Fuck Your Feelings. Gefühle spielen keine Rolle. Außer es sind meine eigenen.
SPRUNG NACH VORN, ETWA ZEHN JAHRE: Welch eine Überraschung – ich bin ein drogensüchtiger Trinker, der in einer gestörten Beziehung nach der anderen sein Trauma immer wieder neu inszeniert. Allerdings möchte ich klarstellen, dass dies in keiner dieser Beziehungen in körperliche Gewalt ausgeartet ist, wie es normalerweise der Fall ist und für so viele eine echte Bedrohung darstellt.* Die Geschichte, die ich als Nächstes erzählen möchte, handelt von einer Nacht, die mir sehr viel darüber gezeigt hat, wie stark Empathie die menschliche Psyche zu beeinflussen und sogar zu verändern vermag. Es ist eine Geschichte darüber, wie ein anderer Mensch von außen ebenso zu mir in Beziehung trat, wie wir innerlich zu uns selbst in Beziehung treten können.
Es war mitten in einem sinnlosen Streit mit einer Partnerin. Ich kann dir nicht einmal mehr sagen, worüber wir uns überhaupt gestritten haben. Ich erinnere mich nur, dass ich mitten in unserem Austausch von Wutausbrüchen hörte, dass sie mir eine eindringliche Frage stellte: »Was haben sie mit dir gemacht?«
Das ließ mich, bildlich gesprochen, eine Vollbremsung hinlegen und sofort aufhören. Ohne dass es mir bewusst gewesen war, hatte ich mein ganzes Leben lang darauf gewartet, dass mir jemand diese Frage stellte und neugierig genug war, um erfahren zu wollen, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass mein Leben ständig einen Beigeschmack der Verzweiflung hatte.
Mein ganzer Körper sackte in sich zusammen. Ich begann zu weinen. Erinnerungen an Gewalt blitzten vor meinem inneren Auge auf. Das markerschütternde Schreien meines Vaters. Die Nacht, als mir eine Waffe an den Kopf gehalten wurde. Eine andere Nacht, als mir ein Messer in die Rippen gedrückt wurde. Die Nacht, als sie meinen besten Freund mit einem Rohr schlugen. Die Nacht, als mir ein anderer »Freund« ins Gesicht schrie: »Gib schon zu, dass du ‘ne Schwuchtel bist! Dann kann ich jetzt die Scheiße aus dir herausprügeln.«
Und doch war ich in jenem Moment dankbar. Dankbar, weil jemand erkannte, dass mir etwas angetan worden war. Jemand blickte hinter den Schleier meiner Stimmungsschwankungen und meiner automatischen Reaktionen auf die schrecklichen, uneingestandenen Erfahrungen, die ich verinnerlicht hatte. Darauf, wie meine Vergangenheit gegenwärtig war. Jemand wollte wissen, wie mein Leben zu solch einem leidvoll verworrenen Schlamassel geworden war. Was haben sie mit mir gemacht? Es war doch bestimmt nicht immer so. Seltsamerweise brauchte ich ihr zum damaligen Zeitpunkt noch nicht einmal etwas von alldem zu erzählen. Weder sie noch ich sagte noch etwas. Dass ich gefragt worden war, genügte irgendwie schon.
Kurz vor dem Einschlafen sagte ich schließlich: »Danke.«
»Wofür?«
»Für deine Frage. Dafür, dass du gefragt hast, was sie mit mir gemacht haben.«
»Oh. Das habe ich gar nicht gesagt. Ich habe gefragt: ›Was hast du dir nur dabei gedacht?‹«
Ich hatte sie falsch verstanden. Ich stand auf, stieg in mein Auto und fuhr nach Hause. Betrunken – der Sohn meines Vaters, der die Familientradition fortführte.
*Aus dem Englischen übernommene Abkürzung für lesbisch, schwul (gay), bisexuell, transgender, intergeschlechtlich und asexuell; das »+«–Zeichen steht für weitere Geschlechtsidentitäten (Anm. d. Lekt.).
*Du solltest auch wissen, dass Angst vor Nähe und Bindungsstörungen eine enorme Motivation bei meiner noch andauernden traumafokussierten inneren Arbeit und in meinem Prozess sind. Dazu gehört auch, dass ich Situationen wie die, die ich gleich beschreibe, wiedergutmachen möchte.